Eine tragische Vergangenheit
Als meine Großeltern starben, war ich sieben Jahre alt.
Heute, mit vierzehn Jahren, kann ich mich noch genauso gut daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. Lange, vielleicht zu lange, habe ich meine Sorgen jetzt für mich behalten und ich halte es nicht mehr so, ich muss es irgendwem erzählen. Und jetzt tu ich das, ich erzähle es meinem Tagebuch. Und genau davon hältst du in diesem Moment ein paar Seiten in der Hand. Seiten, die schon durch etliche andere Hände gingen, berühmte Hände, seien es die von Albert Einstein oder von jemand anderem, ich kann es nicht wissen.
~
Es war Weihnachten und meine Eltern und ich saßen vor der Bescherung am Tisch im Wohnzimmer und leisteten dem Tannenbaum Gesellschaft, während wir Mau-Mau spielten.
Vor dem Fenster rieselten weiße Schneeflocken zu Boden, still und leise, ohne jegliches Geräusch. Ich war noch klein, doch irgendwann spürte ich, dass mit meinen Eltern etwas nicht in Ordnung war. Zumindest mit meinem Vater. Ständig wippte er auf und ab. Zuerst dachte ich noch, er wäre hibbelig wegen seiner guten Karten, aber das hörte nach drei Runden nicht auf und irgendwann riss ich mich zusammen und fragte ihn.
Er wollte mir nicht sagen, was denn passiert sei, doch meiner Mutter nickte er verheißungsvoll zu und die beiden standen gleichzeitig auf und legten ihre Karten auf den Tisch.
Pik-Sieben, Karo-Ass, Kreuz-Zehn, Herz-Dame.
Ich schaute meine Eltern erschrocken an. Was war mit ihnen los, wo wollten sie hin? Ich hoffte auf eine Erklärung und musste nicht lange warten.
„Caro, wir haben ein Problem. Vor zwei Stunden kam ein Anruf, von Nina. Sie hat gesagt, deine Oma und dein Opa wären gestorben!“
Nina war die Pflegerin von meiner Oma und meinem Opa und lebte schon seit etwa fünf Jahren bei den beiden. Ich riss erschrocken den Mund auf, zu einem stummen Schrei und schaute meine Eltern noch erschrockener an, als zuvor.
„Aber bestimmt war das eine Erlösung für sie, schließlich waren sie schon neunzig und fünfundneunzig Jahre alt“, versuchte mein Vater mich zu beruhigen. Doch ganz im Gegenteil, das machte die Sache nur noch schlimmer. Meine anderen Großeltern hatte ich schon mit vier Jahren verloren und trotzdem konnte ich mich mit sieben noch gut an sie erinnern. Ich habe keine Geschwister und war oft bei meiner Oma und meinem Opa, wenn Mama und Papa keine Zeit für mich hatten. Und jetzt, mit wem wollte ich dann meine Zeit verbringen? Die Schule war nicht lange, nur bis um elf und dann hatten wir Freizeit. Sollte ich etwa noch etliche Stunden im ätzenden Hort verbringen, wo sich alle Kinder nur prügeln? Nein, da gehörte ich ganz sicher nicht hin und da würde ich auch in der zweiten, dritten und vierten Klasse nicht hingehören.
„Woran sind die beiden denn gestorben?“, fragte ich, doch war die Antwort denn nicht selbstverständlich? Jetzt, mit vierzehn Jahren weiß ich auch, dass jeder Mensch irgendwann mal stirbt, sei es das Alter, eine Krankheit oder ein tragischer Unfall. Und manche Menschen vermisst man mehr als andere, weil man sie vielleicht besser kannte und mehr mit ihnen zu tun hatte, wie ich mit meinem Opa und meiner Oma.
Ich fragte meine Eltern, ob ich nicht mitkommen könnte, um die beiden noch ein letztes Mal zu sehen. Doch sie verneinten, packten ihre Sachen, stiegen ins Auto und ließen mich unterm Tannenbaum sitzend alleine.
Eine Weile schaute ich nach draußen und sah den Schneeflocken zu, die noch immer vom Himmel vielen. Ob Oma den letzten Schnee genossen hatte, während sie einen neuen Schal für Opa strickte? Bestimmt nicht, denn es kam so plötzlich, wahrscheinlich dachte sie, dass sie noch ein langes Leben haben würde, da sie ja schon so alt war und bestimmt noch länger durchgehalten hatte. So jedenfalls dachte ich mit sieben Jahren.
Jetzt, wenn ich zurückdenke, sehe ich das anders. Bestimmt hatten sie den Schnee genossen, beide, vielleicht mit einer wärmenden Tasse Kakao in der Hand. Vielleicht hatten sie sogar erwartet, dass sie sterben würden. Manche Menschen sterben schon früher, nur wenige werden so alt. So viel weiß ich jedenfalls heute.
Nach gut drei Stunden kamen Mama und Papa zurück. Ich hörte das Auto die Straße hochfahren und öffnete ihnen die Haustür. Sie schlossen mich in den Arm und so standen wir eine Weile da, Mama, Papa und ich. Irgendwann lösten wir uns wieder voneinander, nach einer gefühlten Ewigkeit. Wir gingen ins Wohnzimmer, die Karten lagen noch immer auf dem Tisch. Dann begannen wir mit der Bescherung. Ein rotes und ein blaues Päckchen für lagen unter dem Weihnachtsbaum. Langsam öffnete ich die Schleife und heraus viel zu aller erst ein Brief. Langsam öffnete ich das alte Papier und erkannte Omas Handschrift.
Liebe Caro,
langsam geht es zu Ende mit uns, mit mir und Deinem Großvater. Wir haben Schmerzen und unser Leben ist schwer momentan. Ich weiß nicht, ob wir uns noch einmal lebend wieder sehen werden aber wo auch immer ich jetzt landen werde, ich werde Dich nie vergessen.
Noch eine schöne Zeit wünschen Dir
Deine Großeltern
PS: Mach dir keine Sorgen um uns, uns wird es gut gehen, wo wir hinkommen.
Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden und eine Träne sickerte auf das Papier. Ich konnte nicht mehr, gerade erst hatte ich lesen gelernt und jetzt schickte mir meine Oma so einen Brief, der vom Tod handelte? Früher, mit sieben Jahren, konnte ich das kein bisschen verstehen.
Heute, mit vierzehn weiß ich, dass ich den Tod meiner Großeltern nie verkraftet hätten, wenn sie mir nicht wenigstens einen Briefe geschrieben hätten, und das haben sie ja auch getan.
Ich öffnete das Päckchen noch ein Stück weiter und erblickte ein rot-weiß gestreiftes Stück Stoff aus Omas typischer Wolle. Sie hatte sich also tatsächlich die Mühe gemacht und ihre letzten Stündlein damit verbracht, einen Pullover für mich zu stricken! Meine Augen wurden nun schon zum zweiten Mal feucht. Ich lief ins Bad und holte mir ein Taschentuch. Dann tupfte ich mir die Augen ab.
Den Pullover trug ich ab nun oft. So gut wie jeden Tag, nur wenn meine Mutter mal wieder sagte, er müsse in die Wäsche, legte ich ihn ab.
Auch in diesem Augenblick trage ich ihn. Ich sitze an meinem Schreibtisch und schreibe diese Zeilen, in Gedenken an meine Großeltern, deren Tod jetzt auf den Tag genau sieben Jahre her ist. Sieben, eine magische Zahl. Heute unter dem Weihnachtsbaum fand ich ein Päckchen mit einem handgestrickten Pullover, gestrickt in sieben Farben.
Als meine Großeltern starben, war ich sieben Jahre alt.
Heute, mit vierzehn Jahren, kann ich mich noch genauso gut daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. Lange, vielleicht zu lange, habe ich meine Sorgen jetzt für mich behalten und ich halte es nicht mehr so, ich muss es irgendwem erzählen. Und jetzt tu ich das, ich erzähle es meinem Tagebuch. Und genau davon hältst du in diesem Moment ein paar Seiten in der Hand. Seiten, die schon durch etliche andere Hände gingen, berühmte Hände, seien es die von Albert Einstein oder von jemand anderem, ich kann es nicht wissen.
~
Es war Weihnachten und meine Eltern und ich saßen vor der Bescherung am Tisch im Wohnzimmer und leisteten dem Tannenbaum Gesellschaft, während wir Mau-Mau spielten.
Vor dem Fenster rieselten weiße Schneeflocken zu Boden, still und leise, ohne jegliches Geräusch. Ich war noch klein, doch irgendwann spürte ich, dass mit meinen Eltern etwas nicht in Ordnung war. Zumindest mit meinem Vater. Ständig wippte er auf und ab. Zuerst dachte ich noch, er wäre hibbelig wegen seiner guten Karten, aber das hörte nach drei Runden nicht auf und irgendwann riss ich mich zusammen und fragte ihn.
Er wollte mir nicht sagen, was denn passiert sei, doch meiner Mutter nickte er verheißungsvoll zu und die beiden standen gleichzeitig auf und legten ihre Karten auf den Tisch.
Pik-Sieben, Karo-Ass, Kreuz-Zehn, Herz-Dame.
Ich schaute meine Eltern erschrocken an. Was war mit ihnen los, wo wollten sie hin? Ich hoffte auf eine Erklärung und musste nicht lange warten.
„Caro, wir haben ein Problem. Vor zwei Stunden kam ein Anruf, von Nina. Sie hat gesagt, deine Oma und dein Opa wären gestorben!“
Nina war die Pflegerin von meiner Oma und meinem Opa und lebte schon seit etwa fünf Jahren bei den beiden. Ich riss erschrocken den Mund auf, zu einem stummen Schrei und schaute meine Eltern noch erschrockener an, als zuvor.
„Aber bestimmt war das eine Erlösung für sie, schließlich waren sie schon neunzig und fünfundneunzig Jahre alt“, versuchte mein Vater mich zu beruhigen. Doch ganz im Gegenteil, das machte die Sache nur noch schlimmer. Meine anderen Großeltern hatte ich schon mit vier Jahren verloren und trotzdem konnte ich mich mit sieben noch gut an sie erinnern. Ich habe keine Geschwister und war oft bei meiner Oma und meinem Opa, wenn Mama und Papa keine Zeit für mich hatten. Und jetzt, mit wem wollte ich dann meine Zeit verbringen? Die Schule war nicht lange, nur bis um elf und dann hatten wir Freizeit. Sollte ich etwa noch etliche Stunden im ätzenden Hort verbringen, wo sich alle Kinder nur prügeln? Nein, da gehörte ich ganz sicher nicht hin und da würde ich auch in der zweiten, dritten und vierten Klasse nicht hingehören.
„Woran sind die beiden denn gestorben?“, fragte ich, doch war die Antwort denn nicht selbstverständlich? Jetzt, mit vierzehn Jahren weiß ich auch, dass jeder Mensch irgendwann mal stirbt, sei es das Alter, eine Krankheit oder ein tragischer Unfall. Und manche Menschen vermisst man mehr als andere, weil man sie vielleicht besser kannte und mehr mit ihnen zu tun hatte, wie ich mit meinem Opa und meiner Oma.
Ich fragte meine Eltern, ob ich nicht mitkommen könnte, um die beiden noch ein letztes Mal zu sehen. Doch sie verneinten, packten ihre Sachen, stiegen ins Auto und ließen mich unterm Tannenbaum sitzend alleine.
Eine Weile schaute ich nach draußen und sah den Schneeflocken zu, die noch immer vom Himmel vielen. Ob Oma den letzten Schnee genossen hatte, während sie einen neuen Schal für Opa strickte? Bestimmt nicht, denn es kam so plötzlich, wahrscheinlich dachte sie, dass sie noch ein langes Leben haben würde, da sie ja schon so alt war und bestimmt noch länger durchgehalten hatte. So jedenfalls dachte ich mit sieben Jahren.
Jetzt, wenn ich zurückdenke, sehe ich das anders. Bestimmt hatten sie den Schnee genossen, beide, vielleicht mit einer wärmenden Tasse Kakao in der Hand. Vielleicht hatten sie sogar erwartet, dass sie sterben würden. Manche Menschen sterben schon früher, nur wenige werden so alt. So viel weiß ich jedenfalls heute.
Nach gut drei Stunden kamen Mama und Papa zurück. Ich hörte das Auto die Straße hochfahren und öffnete ihnen die Haustür. Sie schlossen mich in den Arm und so standen wir eine Weile da, Mama, Papa und ich. Irgendwann lösten wir uns wieder voneinander, nach einer gefühlten Ewigkeit. Wir gingen ins Wohnzimmer, die Karten lagen noch immer auf dem Tisch. Dann begannen wir mit der Bescherung. Ein rotes und ein blaues Päckchen für lagen unter dem Weihnachtsbaum. Langsam öffnete ich die Schleife und heraus viel zu aller erst ein Brief. Langsam öffnete ich das alte Papier und erkannte Omas Handschrift.
Liebe Caro,
langsam geht es zu Ende mit uns, mit mir und Deinem Großvater. Wir haben Schmerzen und unser Leben ist schwer momentan. Ich weiß nicht, ob wir uns noch einmal lebend wieder sehen werden aber wo auch immer ich jetzt landen werde, ich werde Dich nie vergessen.
Noch eine schöne Zeit wünschen Dir
Deine Großeltern
PS: Mach dir keine Sorgen um uns, uns wird es gut gehen, wo wir hinkommen.
Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden und eine Träne sickerte auf das Papier. Ich konnte nicht mehr, gerade erst hatte ich lesen gelernt und jetzt schickte mir meine Oma so einen Brief, der vom Tod handelte? Früher, mit sieben Jahren, konnte ich das kein bisschen verstehen.
Heute, mit vierzehn weiß ich, dass ich den Tod meiner Großeltern nie verkraftet hätten, wenn sie mir nicht wenigstens einen Briefe geschrieben hätten, und das haben sie ja auch getan.
Ich öffnete das Päckchen noch ein Stück weiter und erblickte ein rot-weiß gestreiftes Stück Stoff aus Omas typischer Wolle. Sie hatte sich also tatsächlich die Mühe gemacht und ihre letzten Stündlein damit verbracht, einen Pullover für mich zu stricken! Meine Augen wurden nun schon zum zweiten Mal feucht. Ich lief ins Bad und holte mir ein Taschentuch. Dann tupfte ich mir die Augen ab.
Den Pullover trug ich ab nun oft. So gut wie jeden Tag, nur wenn meine Mutter mal wieder sagte, er müsse in die Wäsche, legte ich ihn ab.
Auch in diesem Augenblick trage ich ihn. Ich sitze an meinem Schreibtisch und schreibe diese Zeilen, in Gedenken an meine Großeltern, deren Tod jetzt auf den Tag genau sieben Jahre her ist. Sieben, eine magische Zahl. Heute unter dem Weihnachtsbaum fand ich ein Päckchen mit einem handgestrickten Pullover, gestrickt in sieben Farben.